Gesichtserkennung: ein Erbe der Primaten

Hunde, Wölfe oder Bären markieren ihr Revier mit Duftstoffen. Wenn ein Hund das Bein an einem Baum hebt, setzt er eine eindeutige, individuelle Duftmarke. Nicht sein Gesicht macht ihn für andere Hunde unverwechselbar, sondern sein Geruch. Wir Menschen verstehen das nicht. Unser schwach entwickelter Geruchssinn läßt solche feinen Unterscheidungen nicht zu. Auch Affen und Halbaffen haben nicht annähernd so gute Nasen wie Hunde oder Bären. Man bezeichnet sie deshalb als Mikrosmaten. Im Gegensatz zu uns ist der Hund ein Nasentier, ein Makrosmat. Auch der Vorfahre der Primaten (Sammelbezeichnnung für Affen und Menschen) war vermutlich ein Makrosmat, ein bodenlebendes, insektenfressendes Nasentier.

Paläontologen vermochten bisher nur spärliche Zahn- und Schädelabdrücke unserer entfernten Vorfahren auszugraben. Aber selbst diese Reste lassen vermuten, dass schon zu der Zeit der Dinosaurier unsere Vorfahren die Sicherheit der Bäume suchten. Als der donnernde Fall eines riesigen Meteors die Zeit der Riesenechsen beendete, hatten sie sich an das Leben im Dickicht der Blätter und Zweige weitgehend angepasst. Noch sah man ihnen nicht an, wohin sie sich entwickeln würden: Eine lange Schnauze vor einem flacher Schädel, dahinter ein wieselartiger Körper, und lange, für das Umgreifen von Ästen ausgebildete Finger und Zehen - so etwa könnenn sie ausgesehen haben.

Im Laufe der Jahrmillionen verkürzte sich die Schnauze und die Augen wuchsen im Verhältnis zum Körper. Der Schädel wölbte sich auf, um mehr Platz für das Gehirn zu schaffen. Die Primaten besetzten die verschiedensten ökologischen Nischen und besiedelten alle Kontinente (nur Australien blieb im Alleinbesitz der Beuteltiere).

Doch so weit sie auch kamen, so verschieden sie aussahen, sie blieben Baumtiere. Immer perfekter passten sie sich dem Leben im Irrgarten der Äste und Blätter an. Ihre großen Augen waren jetzt nach vorne gerichtet, um das räumliche Sehen zu ermöglichen. Zuverlässig maßen ihre Gehirne die Entfernung zum nächsten Ast und leiteten die Hände unfehlbar zum einem sicheren Griff. Der Geruchssinn verkümmerte, das Sehen war jetzt wichtiger als das Riechen. Vor etwas 35 Millionen Jahren bevölkerten die ersten echten Affen den afrikanischen Dschungel - und andere Wälder, aus denen ihre Spuren längst getilgt sind. Spätestens jetzt erkannten die frühen Affen ihre Artgenossen nicht mehr am Geruch, sondern am Gesicht.

Woher wissen wir das? Die fossilen Überreste der ersten echten Affen stammen von längst ausgestorbenen Arten. Kein Mensch kann sie beobachten, kein Zoo kann sie studieren. So müssen uns Indizien reichen, und davon gibt es reichlich. Denn die Uraffen sind zwar ausgestorben, doch sie haben eine vielgestaltige Nachkommenschaft hinterlassen, die höheren Affen oder Anthropoidea. Sie sind über die ganze Welt verteilt und doch sind sie sich so ähnlich geblieben, dass wir sie sicher als Affen erkennen. Die ausdrucksvollen Augen fesseln unsere Blick, das beinahe menschliche Gesicht rührt uns an. Sie alle sind Augentiere. Ihr Riechhirn ist vergleichsweise klein. Immer, ohne Ausnahme. In der Evolution gilt eine eiserne Regel: eine verlorene Fähigkeit kommt nicht zurück, ein rückgebildetes Organ ersteht nicht wieder. Wenn also alle Affen ein kleines Riechhirn haben, muss es der gemeinsame Vorfahr auch gehabt haben, sonst wäre unter den mehr als hundert Affenarten höchstwahrscheinlich wenigsten ein Nasentier. So war also schon der Uraffe vor 35 Millionen Jahren auf seine Augen angewiesen, wenn er seine Artgenossen erkennen wollte.

Rhesusaffen

Wie Menschen und Schimpansen unterscheiden auch die Lieblingstiere der Primatenforscher, die Rhesusaffen, eindeutig die Gesichter ihrer Artgenossen. Sie sind mit den Menschen nicht allzu eng verwandt, die Entwicklungslinien der beiden Arten trennten sich vor ca. 20-25 Millionen Jahren, also nicht lange nach dem Auftreten der ersten echten Affen.

Für biologisch Interessierte: der Rhesusaffe Macaca mulatta gehört zur wie der Mensch zur Teilordnung der Altweltaffen oder Schmalnasen (Katarrhinae) in der Unterordnung der Trockennasenaffen (Haplorrhini). Während der Mensch aber zur Überfamilie der Hominoidea (der Menschenartigen) gehört, stellt man den Rhesusaffen in die Überfamilie der geschwänzten Altweltaffen (Cercopithecoidea) und hier zu den Meerkatzenartigen oder Hundsaffen (Cercopithecidae).

Trotz der langen getrennten Entwicklung gleichen sich die Gehirnstrukturen von Mensch und Rhesusaffe bis in feine Details. Das Hirn des Mensch hat - auch wenn wir das vielleicht nicht gerne hören - den typischen Aufbau eines Anthropoidenhirns. Gewiss, es ist größer als das aller Affen, und das Stirnhirn zeigt besondere, nur beim Menschen vorkommende Erweiterungen. Doch der Bauplan gleicht dem der anderen Anthropoidea. Für wichtige Zentren der Gesichtsverarbeitung im Schläfenlappen des Menschenhirns hat man in den letzten Jahren analoge Strukturen im Gehirn von Rhesusaffen gefunden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit läuft die Gesichtserkennung bei Rhesusaffen also ähnlich ab beim Menschen.

Diese Gemeinsamkeit läßt nur einen Schluss zu: Schon der letzte gemeinsame Vorfahr war ein Augentier mit schwach ausgebildetem Riechhirn, der seine Artgenossen an ihren Gesichtern erkannte. Heute gehört diese Fähigkeit zur Grundausstattung unserer Wahrnehmung:

Schon ein neugeborenes Baby wendet sich einem Gesicht zu. Bereits nach wenigen Wochen erkennt es das Gesicht seiner Mutter unter den vielen anderen Gesichtern, die über seiner Wiege auftauchen.

Und wie unsere Vorfahren vor Millionen von Jahren lesen wir auch die Gesichter unserer Mitmenschen, wir lesen ihre Stimmung, wir lesen aus den Furchen, die Zeit und Sorgen hineingeschrieben haben.

Verfasser: Dr. Thomas Grüter.
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